Sonntag, 29. August 2010

Rein und Raus oder Durch und Weg

Dieses Posting dreht sich zumindest indirekt um Stuttgart 21, das heiß diskutierte und heftig umstrittene Bahnhofs-Neubauprojekt in der Schwaben-Metropole der Hauptstadt Baden-Württembergs. Und da man bei dem Thema quasi sofort auf dünnem Eis steht, gibt's zunächst mal folgenden Disclaimer: Ich selbst habe zu dem Vorhaben zwar ein Baugefühl, aber keine (eisenbahntechnisch-)fachlich fundierte Meinung. Dies liegt vor allem daran, dass ich die verschiedenen, zusammengehörigen Neubauprojekte noch nicht genau genug verstanden und analysiert habe, um dieses Bauchgefühl entweder zu untermauern oder zu revidieren. Dieser Beitrag enthält also kein Bekenntnis zu der einen oder der anderen Position.

Der Sinn dieses Postings liegt vielmehr darin, dass ich mit zwei etwas durcheinandergehenden Aussagen zu Kopf- und Durchgangsbahnhöfen aufräumen möchte, die mir kürzlich begegnet sind. Vielleicht hilft dieser Beitrag, die Diskussionen an anderer Stelle zu versachlichen. Hier nun die beiden Aussagen, mit denen ich mich auseinandersetzen will:

  1. "Durch moderne Fahrzeugtechnik verursachen Kopfbahnhöfe nicht mehr so viel Zeitverlust." - Dieser Aussage würde ich eher zustimmen. Ein Großteil der Fern- und Nahverkehrszüge fährt heute als Triebwagen oder als Wendezug. Erstere haben sowieso einen Führerraum hinten und vorne. Bei Letzteren ist an einem Zugende die Lok und am anderen ein Steuerwagen, der die Lok am anderen Ende fernsteuert. Damit entfällt die zeitraubende Notwendigkeit, nach Einfahrt des Zuges die eine Lok ab- und die andere ankuppeln zu müssen. Ausserdem spart man sich die kapazitätsfressenden Rangierfahrten, um die Loks in die bzw. aus der Abstellanlage zu bekommen. Heute kann man einen Zug in einem Kopfbahnhof etwa in der Zeit abfertigen, die nur wenig über der liegt, die man eh zum Reisendenwechsel braucht. Allerdings ist der Fahrtrichtungswechsel nicht immer unproblematisch. Beim Aufrüsten des anderen Führerraums kann es durchaus zu Störungen kommen, die eine Weiterfahrt verzögern können. Das ist aber - zum Glück - nur sehr selten der Fall.

  2. "Durch moderne Signaltechnik lassen sich Fahrgeschwindigkeiten auch bei Kopfbahnhöfen erhöhen." - Diese Aussage ist hingegen eher kritisch zu sehen. Grundsätzlich ist es so, dass die Obergrenze der Fahrgeschwindigkeit durch die Trassierungsparameter (also die geometrische Raumkurve) der Gleise und Weichen bestimmt ist. Kurz: Je enger die Radien sind, desto langsamer muss man fahren, damit Seitenbeschleunigung und Ruck nicht zu groß werden. Daran kann auch die Signaltechnik erstmal nichts ändern. Erschwerend kommt hinzu, dass bei Kopfbahnhöfen oftmals recht gedrungene Spurpläne mit kleinen Abzweigradien üblich sind. Schnellfahren ist damit ganz prinzipiell schon schwieriger, als bei gestreckten Durchgangsbahnhöfen.

    Erschwerend kann bei älterer Signaltechnik nun allerdings hinzukommen, dass man die aus der Trassierung vorgegebene Obergrenze der Fahrgeschwindigkeit nicht ausreizen kann. Dies liegt daran, dass man aus Vereinfachungsgründen beispielsweise auf allen Fahrwegen pauschal 40 km/h vorgibt, obwohl man auf einzelnen Fahrbeziehungen durchaus z.B. 60 km/h fahren könnte. In diesem Fall kann eine erneuerte Signaltechnik tatsächlich Vorteile bewirken.

    Ein Problem haben aber alle Kopfbahnhöfe, egal wie modern die Signaltechnik ist: Bei der Einfahrt in Stumpfgleise (also Gleise mit Prellbock am Ende) ist - zumindest im Bereich der ehemaligen Deutschen Bundebahn - ab einem bestimmten Punkt (meist am Bahnsteiganfang) nur noch eine Geschwindigkeit von 30 km/h zulässig [Ril301, 301.0301, S. 4], [Ril408, 408.0451]. Das ist ziemlich wenig, wenn man bedenkt, dass modernes Fahrzeugmaterial bei optimalen Verhältnissen auch dann zielsicher zum Stehen gebracht werden kann, wenn man am Bahnsteiganfang noch 80 oder 100 km/h drauf hat. Zusammenfassung: Der Einfluss moderner Signaltechnik auf die Betriebsabwicklung von Kopfbahnhöfen ist eher gering.
Weiterhin hat ein Kopfbahnhof den immanenten Nachteil, dass die Zulaufstrecken immer nur in einer Richtung direkt zum Bahnhof führen können. Kommt man aus einer der "falschen" Richtungen, muss man zwingend immer einmal um den Pudding fahren. Bei Durchgangsbahnhöfen hat man immerhin schon mal zwei Himmelsrichtungen, aus denen man direkt zum Bahnhof kommt. Diese Eigenschaft kann aber - je nach lokalen Gegebenheiten - sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. In weit dies in Stuttgart relevant ist, möchte ich aus o.g. Gründen hier nicht bewerten.

[Ril301] Richtlinie 301: Signalbuch; Hrsg.: DB Netz AG, 2008
[Ril408] Richtlinie 408: Züge fahren und Rangieren, Hrsg.: DB Netz AG, 2009

    Montag, 23. August 2010

    Warum die Angst vor Google Streetview lächerlich ist

    Heute gibt es mal nichts zum Systems-Engineering, sondern einen kurzen Exkurs in ein Thema, das mich in den letzten Wochen wirklich aufgeregt hat: Die irrationale, medial aufgebauschte Panikmache vor Google Streetview.

    Man hatte ja zeitweise den Eindruck, dass - sobald der Dienst online ist - Einbrecher sofort flächendeckend alles mitgehen lassen, was nicht angedübelt und/oder bei drei auf den Bäumen ist. Auch werden alle Mitmenschen, die es mit der Treue nicht so randscharf nehmen, sofort auffliegen, die Scheidungsraten werden explodieren und subsequent eine Generation verwahrloster Kinder heranwachsen.

    Das alles wird nicht passieren, denn:

    1. Google Streeview ist nicht live (ja, es gibt wirklich Leute, die das glauben. Wenn man denen GoolgeEarth zeigt, gehen die auch raus und winken nach oben [der Gag ist schamlos aus Bits und So #213 geklaut]). Einbrecher interessieren sich aber im Allgemeinen nicht für zwei Jahre alte Fotos.
    2. Einbrecher interessieren sich auch im Speziellen nicht primär für die Fassade eines Hauses. Sondern dafür, wer wann wo nicht daheim bzw. anwesend ist. Hint: StreetView ist nicht live.
    3. Viel interessanter für dunkle Gesellen ist übrigens Google Maps oder Google Earth. Da kann man nämlich schick von oben sehen, was hinter der Hecke, hinter dem Haus und neben dem Grundstück so los ist.
    4. Auch heute kann man sich schon einen Eindruck von der Lage und dem Aussehen eines Hauses verschaffen! Ehrlich! Das geht! In Echtzeit! Und sogar in 3D! Die Dienste die man dazu braucht heißen "Hingehen" und "Anschauen". Es gibt sogar ein Upgrade für die Speicherung der Bilder, aber dafür braucht man Zusatzhardware. Die ist unter dem Namen "Fotoapparat" im Fachhandel erhältlich.
    5. Und zuletzt: Wenn man durch Streetview beim Fremdgehen ertappt wird, geschieht einem das a) zu recht und b) ist das arg peinlich, oder?
    Und um den Paranoikern noch eins mitzugeben: Hier wohnt Frau Merkel. Viel Spaß in der kardiologischen Notaufnahme.

    Mittwoch, 4. August 2010

    Lückenschlussmaßnahme

    Oder: "Ceci n'est pas une pipe."

    Immer, wenn mich jemand fragt, was ich "so beruflich mache", dann finde ich das relativ schwer zu erklären. Vor einigen Tagen saß ich mit einem fachfremden Freund bei einigen Bieren zusammen und kam dabei auf folgende Erklärung: Ich versuche, Lücken klein zu halten. Prinzipiell geht es beim Systems-Engineering und insbesondere beim Anforderungsmanagement genau darum. Ich versuche das in den folgenden Absätzen zu erklären.

    Als Einstieg will ich ein Gedankenkonstrukt vorstellen, dass sich mit den grundlegenden Unterschieden zwischen der Realität und der Vorstellung der Realität auseinandersetzt.

    Prinzipiell ist es so, dass jedes reale Objekt ziemlich komplex ist, auch ein einfaches, wie z.B. die Mehrfachsteckdose, an die mein Notebook gerade angeschlossen ist. Alleine die äußere Form der Steckdose ist in der Realität wahrscheinlich zu kompliziert, um sie vollständig zu beschreiben.

    "Moment mal, das ist doch nur ein Kasten!" mag man jetzt einwenden, aber genau das stimmt eben nicht. Die Steckdose ist in der Realität kein Kasten (oder Quader, um es korrekt zu bezeichnen). Die 12 Kanten - die dann genau gerade sein müssten - sind alles andere als genau gerade, sondern um zehntel Millimeter gebogen und geschwungen, durch Fertigungsungenauigkeiten, Temperatureinflüße oder weil man sich irgendwann mal aus Versehen draufgesetzt hat. Geht man noch näher heran, stellt man fest, dass die Oberfläche leicht aufgeraut ist, also aus Millionen und Abermillionen von kleinen Einbuchtungen besteht. Alleine die daraus entstehende dreidimensionale Fläche vollständig zu beschreiben, dürfte nicht mehr machbar sein.

    Dennoch reicht es in der überwiegende Zahl der Fälle aus, wenn man die Steckdose als Kasten auffasst, der 15 Zentimeter lang ist, 5 cm breit und 3 cm hoch und aus rauem Plastik. Dieses einfache Modell repräsentiert alle Eigenschaften hinreichend genau um beispielsweise zu entscheiden, ob man das Teil hinter den Fernseher gefummelt bekommt oder eben nicht.

    Will sagen: Was wir im Kopf haben, ist niemals das Ding an sich oder eine vollständige, identische Abbildung davon, sondern ein vereinfachtes Modell. Anders könnten wir mit der Komplexität unserer Welt gar nicht umgehen. Und das gilt nicht nur für Mehrfachsteckdosen, Legosteine und Vollkornschrippen, sondern erst recht für Verkehrsflugzeuge, das Handynetz oder Hochgeschwindigkeitszüge. Es hat aber genau so auch für die Beziehung zur Freundin, die Dynamik in unseren sozialen Netzen oder für unser politisches System Gültigkeit.

    Wenn wir über Sachverhalte nachdenken, sie kommunizieren oder dokumentieren, machen wir das anhand von vereinfachten Modellen.

    Nach [STA] machen dabei die folgenden drei Merkmale ein Modell aus:
    • Abbildung: Ein Modell ist eine Repräsentation eines wie auch immer gearteten Objektes
    • Vereinfachung: Das Modell gibt nur die für die momentane Aufgabenstellung relevanten Eigenschaften wieder
    • Pragmatik: Das Modell ist nur für einen bestimmten Zeitraum, für bestimmte Nutzer und unter bestimmten Randbedingungen anwendbar
    Das trifft es eigentlich ziemlich gut.

    Gut, aber was hat das nun alles mit der Ausgangsfragestellung zu tun?

    Dazu ein kurzer Exkurs in die technische Welt. Dort macht man oftmals genau das, was ich zwei Absätze weiter oben beschrieben habe: Man durchdenkt, kommuniziert und dokumentiert komplexe technische Systeme. In meinem konkreten Fall mache ich das überwiegend für Systeme, die es noch nicht gibt. Ich erstelle Anforderungsspezifikationen; das sind Dokumente, die beschreiben, was ein zukünftiges System einmal machen soll.

    Anders als bei der Mehrfachsteckdose von oben steht dabei meist nicht die äußere Form im Mittelpunkt der Betrachtungen, sondern das Verhalten eines Systems. Und auch hier gilt: Das Verhalten der Systeme ist in der Realität mit all den physikalischen Eigenschaften, allen Abhängigkeiten und Emergenzen viel zu komplex, um es vollständig zu beschreiben.

    Deswegen werden auch hierbei Modelle verwendet, überwiegend jedoch implizit. Z.B. dadurch, dass jeder Beteiligte - ob er will oder nicht - ohnehin ein gedankliches Modell des zukünftigen Systems in seinem Kopf hat oder dadurch, dass man durch z.B. eine schriftliche Dokumentation ein solches implizites Modell erschafft.

    Das Problem dabei ist nun, dass alle diese Modelle - wie oben festgestellt - Vereinfachung des realen Systems darstellen, dieses also nicht 100%ig genau beschreiben. Es verbleibt eine Lücke zwischen dem System, so wie es durch das Modell abgebildet ist und dem System, wie es später in der Realität einmal tatsächlich sein wird. Das bedeutet auch, dass das Verhalten eines Systems in dieser Lücke undefiniert ist.

    Und genau das kann zum Problem werden. Die Systeme, mit denen ich mich beschäftige haben ziemlich oft Sicherheitsverantwortung (im Sinn der Betriebssicherheit), was bedeutet, dass ein funktionales Fehlverhalten unangenehme Folgen kann. Entweder, weil die Aufzugsteuerung plötzlich entscheidet, die Kabine trotz offener Tür losfahren zu lassen. Oder weil die Waschmaschine nicht erkennt, dass mehr Wasser nicht hineinpasst und dieses sich daraufhin in der Küche verteilt. Und bei den oben angesprochenen Hochgeschwindigkeitszügen und Verkehrsflugzeugen kann ein funktionales Fehlverhalten dann nicht nur unschön werden, sondern katastrophale Folgen haben.

    Und damit kommen wir endlich zu dem, was ich "so beruflich mache". Ich versuche, die Lücke zwischen Modell und Realität an den entscheidenden Stellen so klein wie möglich zu halten. Damit soll hinreichend unwahrscheinlich werden, dass das, was da drin dann eben nicht definiert ist, etwas wirklich Schlimmes anrichtet.

    Eine wirtschaftliche - nennen wir es mal "Herausforderung" - ist dabei, dass das um so aufwändiger (und damit: teurer) wird, je kleiner die Lücke schon ist. Es ist daher sinnvoll, erst einmal die Bereiche des Systemverhaltens zu identifizieren, die potenziell bedeutend für die Sicherheit und Benutzbarkeit des zukünftigen Systems sind. In diesen Bereichen gibt man sich bei der Spezifikation der Anforderungen dann besondere Mühe, wohingegen in den eher unwichtigen Bereichen auch ein stark vereinfachtes Modell des zukünftigen Systems ausreicht (siehe die Steckdose oben, siehe Bild unten).

    Realität und Modell, mal ganz einfach
    Eine Möglichkeit, an den entscheidenden Stellen eine sehr gute Abbildung des zukünftigen Systemverhaltens zu erreichen, besteht darin, sich ganz explizit auf Modelle zu stützen. Wenn man eh ein Modell in den Köpfen der Beteiligten erzeugen muss, bietet es sich an, dieses gleich mittels einer für Alle gleichen Vorlage zu tun.

    Diese Modell bestehend dabei üblicherweise nicht aus Pappe und Sperrholz, sondern es sind virtuelle Modelle, die in einer spezifischen Modellierungssprache beschrieben sind. Ein Beispiel für eine solche Modellierungssprache auf Systemebene ist die Systems Modeling Language (SysML), die als erweiterte Teilmenge von der Object Management Group spezifiziert wird.

    In loser Folge möchte ich daher an dieser Stelle Ansätze zur Beschreibung von Systemen durch die SysML vorstellen. Im Vordergrund sollen dabei die Erfahrungen stehen, die ich in den letzten Jahren mit dieser Beschreibungssprache gesammelt habe. In einer Art Vermittlung von Best-Practices möchte ich gerne zeigen, wie sich bestimmte, immer wiederkehrende Aufgabenstellungen am einfachsten und elegantesten lösen lassen.


    Literaturquellen:
    [STA] Stachowiak, Herbert: Allgemeine Modelltheorie. Springer, Wien, 1973