Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Betriebsqualität der Bahn in den letzten Wochen ziemlich unterirdisch war und viele Reisende unter Verspätungen und Zugausfällen gelitten haben. Ebenfalls gibt es wenig Ausreden dafür, dass der Umgang mit dieser Wettersituation durch die DB AG verbesserungswürdig ist.
Allerdings greifen die in den Medien hinauf- und herunterdiskutierten Analysen und Begründungen oftmals zu kurz und werden der hohen Komplxität des Systems "Bahn" nur unzureichend gerecht.
Im Folgenden werde ich einige Aspkete des Problems tiefergehender beschreiben und versuchen, einige der medialen Grauzonen etwas zu erhellen.
Akt 1 - die eingefrorenen Weichen
Ein häufiger Vorwurf an die Bahn ist der, dass sie die Wartung der Infrastruktur und insbesondere der Weichen vernachlässige. Es wird gerne angeführt, dass sie zu wenig oder zu schwache Weichenheizungen einsetze, wodurch Weichen einfrören und den Betrieb behindern.
Dies ist so nicht richtig. Auf fast allen wichtigen Hauptstrecken sind die häufig befahrenen Weichen mit Weichenheizungen ausgerüstet und die funktionieren nach meiner Beobachtung auch ziemlich gut. Diese sind allerdings prinzipbedingt nur dafür geeignet, frisch gefallenen Schnee oder Flugschnee zu verflüssigen oder sich niederschlagendes Wasser flüssig zu halten. Und dies funktioniert üblicherweise auch! Das Problem ist ein anderes: Insbesondere schnellfahrende Züge sammeln ziemlich viel Flugschnee unter dem Fahrzeug an, der sich nach und nach verdichtet und zu Eis wird. Diese Eisbrocken, manche so groß wie Bierkästen, lösen sich gerne dann, wenn der Zug über eine Weiche fährt und es dabei rumpelt und wackelt. Und einige der Brocken landen dann auch zielsicher in deren beweglichen Teilen. Diese Eismengen durch die Weichenheizung wegzutauen dauert so lange, dass man im dicht befahrenen deutschen Netz zwischendurch mindestens einmal die Weiche umstellen müsste. Und genau das geht dann schief, weil das Erreichen einer gesicherten Endlage der Weiche eben durch die Eisbrocken blockiert ist. Das ist kein neues Phänomen, sondern so alt wie die Eisenbahn selbst.
Allerdings gibt es heute einen wesentlichen Unterschied zu früher: Früher waren die Stellwerke in Bahnhöfen und an der freien Strecke mit Personal besetzt. Ließ sich eine Weiche nicht umstellen, gab es dort entweder einen Bahnwerker, der mit Schippe und Besen die Weiche freikehren konnte oder aber der Fahrdienstleiter ließ sich persönlich herab, und übernahm den Job. Heute werden viele Stellwerke ferngesteuert, oft aus Betriebszentralen, mehrere 100 km entfernt. Dies ist durchaus sinnvoll, denn der damit erzielte Rationalisierungseffekt hilft mit, die Betriebskosten für die Infrastruktur in einem irgendwie beherrschbaren Rahmen zu halten. Solche Störungen, die sich nur durch Manpower und physisches Vor-Ort-Sein lösen lassen, werden durch diese Betriebsorganisation allerdings zum Problem.
Wie führt diese Situation nun zu Verspätungen?
Einerseits durch die Weichenstörung an sich, wenn Züge dadurch entweder gar nicht mehr oder z.B. eingleisig verkehren müssen und somit die Streckenkapazität deutlich reduziert wird
Andererseits werden einige Weichen bei Winterwetter vorsichtshalber gar nicht mehr umgstellt. Sie werden dann auf einen Fahrweg festgelegt, der für alle Züge geeignet ist. Auf den Unterwegsbahnhöfen von einigen Schnellfahrstrecken bedeutet dies, dass alle Züge auf den außenliegenden Bahnsteiggleisen verkehren. Dies wiederum bedeutet, dass sie von den mittig liegenden, durchgehenden Hauptgleisen abzweigen müssen, was oft nur mit 60 km/h oder 80 km/h möglich ist. Ein ICE, der sonst mit 250 km/h oder 300 km/h durch den Bahnhof durchfährt, muss also abbremsen und dann wieder beschleunigen, was deutlich Zeit frisst.
Abhilfe wäre nur möglich, wenn man in der Winterzeit für kritische Betriebsstellen zusätzliche Instandhaltungskräfte vorhalten würde, die ortskundig sind und ohne lange Anfahrtswege schnell mal eine Weiche freischippen bzw. freikehren können. Aber das kostet Geld - und offenbar ist es betriebswirtschaftlich günstiger, ausgefallene und verspätete Züge in Kauf zu nehmen. Vielleicht wäre es aber an der Zeit das Problem volkswirtschaftlich zu sehen. Und dann könnte sich sowas plötzlich doch lohnen.
Akt 2 - winteruntaugliche Fahrzeuge
Ebenfalls oft gehört ist der Vorwurf, diese neumodischen Züge wären nicht mehr robust genug für einen Wintereinsatz. Ich bin der Meinung: Das stimmt sogar. In der Tat sind viele moderne Triebwagen empflindlicher als eine gute alte russische Diesellok oder eine Einheits-Eletrolok von 1956.
Allerdings haben sich auch die Anforderungen an moderne Fahrzeuge deutlich kompliziert. Ein aktueller ICE soll nicht nur 300 km/h fahren können, dabei laufruhig sein, klimatisiert und kompatibel zu Strom- und Signalsystemen in vier Ländern, er muss zudem auch leicht sein, günstig in Anschaffung und Unterhalt und bestimmte Normen zu Crashsicherheit, EMV und Geräuschentwicklung erfüllen. Bei Nahverkehrsfahrzeugen kommt die oftmals geforderte Niederflurigkeit hinzu, die zwar das Einsteigen für mobilitätseingeschränkte Fahrgäste einfacher macht, aber die Bodenfreiheit der Fahrzeuge reduziert und sie anfälliger für das Steckenbleiben bei stark zugeschneiten Gleisen macht. Diese teilweise einander widersprechenden Anforderungen lassen sich nur erfüllen, wenn man die Konstruktion in Richtung der technologischen Grenzen verschiebt. Solche Konstruktionen sind dann typischerweise anfälliger gegen äußere Einflüsse, wie z.B. die Einschläge von den o.g. Eisbrocken, die sich während der Fahrt lösen. Unter einer älteren Lok gab es einfach keine Einrichtungen, die sich davon nennenswert beeinflussen ließen - 8 mm - 10 mm dicken Stahlblechen ist der Einschlag eines Eisbrockens relativ egal.
Ganz anders verhält es sich mit aktuellen Fahrzeugen, deren Bauch mit Antennen, Antriebscontainern, Kabelverbindungen und Leitungen gespickt ist und wo immer öfter auch Materialen wie GFK und Aluminium eingesetzt werden.
Hier hilft nur
a) die Reduktion der Höchsgeschwindigkeit - momentan auf 160 km/h oder 200 km/h - um die Auswirkungen der Einschläge zu mindern (was allerdings wieder Verspätungen verursacht)
b) die Vorhaltung einer ausreichenden Betriebsreserve, um ausgefallene Zuggarnituren zu ersetzen
c) eine Durchleuchtung aller Schwachstellen, um bei zukünftigen Fahrzeugen die Problembereiche entschärfen zu können.
Insbesonder mit Punkt b) hat die Bahn momentan ein massives Problem. Zum einen zwingt auch hier die Betriebswirtschaft, möglichst wenig Reserve vorzuhalten, die sonst ungenutzt herumsteht. Zum anderen hat die Bahn aktuell ein permanentes Verfügbarkeitsproblem bei den ICE-T und ICE-3. Da bei diesen Baureihen die Radsatzwellen zu schwach dimensioniert sind, müssen diese Fahrzeuge sehr oft zur Durchsicht in die Werkstatt, was die verfügbare Fahrzeugdecke reduziert. Diese reicht schon unter entspannten Verhältnissen kaum aus, um den tägichen Bedarf zu decken. Kommen dann noch Ausfälle durch Schäden dazu, sind entfallende Züge vorprogrammiert. Bei den älteren IC-Garnituren sieht es nicht anders aus. Hier bleibt nur die Hoffnung, dass sich nach Umbau der ICE-3 und ICE-T auf neue Radsatzwellen die Situation Sommers wie Winters allmählich entschärft. Dies wird aber erst in der Mitte dieser Dekade spürbar werden. Langfristig muss die Bahn endlich die seit Jahren in der Diskussion stehenden ICX bestellen, die die erste Generation ICE und die IC-Garnituren ablösen sollen.
Bei Punkt c) muss man sich allerdings wirklich fragen, wieso manche moderneren Fahrzeuge solch auffällige Schwachstellen aufweisen. So sieht man insbesondere im Winter häufig Züge mit offenen Bugklappen herumfahren, wodurch die Kupplung in der Fahrzeugschnauze komplett vereist und die ICE-2, ICE-3 und ICE-T-Halbzüge nicht mehr wie fahrplanmäßig vorgesehen gekuppelt werden können. Auch dies führt zu Ausfällen und massiven Verspätungen. Ist es so unverhältnismäßig aufwändig, sowohl Bugklappen als auch Kupplungen beheizbar auszuführen? Ebenso auffällig sind die zahlreichen Ausfälle von Antriebsanlagen insbesondere bei der S-Bahn Berlin. Diese scheinen sehr anfällig für Flugschnee und Feuchigkeit zu sein und sind damit offensichtlich nicht "bahnfest".
Akt 3 - Zusammenfassung
Mein Resümee aus den obigen Ausführungen und die daraus entstehenden Forderungen ergeben sich wie folgt:
- Der personelle Rückzug aus der Fläche funktioniert für den Normalbetrieb, kommt aber an seine Grenzen bei besonderen Witterungsbedingungen - bei diesen muss die Bahn zwingend zusätzliches Personal bereitstellen, um Störungen schneller beheben zu können
- Die Fahrzeugreserven sind insbesondere im Fernverkehr gefährlich gering. Hier wäre der Bahn angeraten, die Kapazitätsreserven aufzustocken und möglichst schnell den Engpass bei der IC/ICE-Flotte zu reduzieren. Auch die Neubeschaffung der ICX muss jetzt zügig durchgeführt werden.
- Bei den bestehenden Fahrzeugen müssen die Schwächen analysiert und zügig behoben werden.