Samstag, 9. Oktober 2010

Wie die Eisenbahn funktioniert (ganz grob)

Gespräche mit Freunden sind ja immer großartig. Durch ein solches Gespräch kam ich ja neulich schon darauf, was Systems Engineering eigentlich ist. Diesmal ging es bei ein paar Bieren darum, wie die Eisenbahn funktioniert. Nicht im Detail, sondern eher ganz, ganz grob und allgemein, aus der Vogelperspektive. Als Vergleichsgegenstand habe ich mich auf den Straßenverkehr bezogen, denn den kennt ja fast jeder. Sei es als Fußgänger, Radfahrer oder Autofahrer.

Kurze These:

  • Im Straßenverkehr ist erstmal alles erlaubt und möglich, so lange es nicht untersagt oder reglementiert ist
  • Bei der Eisenbahn ist erstmal alles untersagt, bis es explizit erlaubt wird


Längere Erklärung:

Der Straßenverkehr basiert auf vielen individuellen Einzelentscheidungen der Verkehrsteilnehmer. Ich als z.B. Autofahrer kann zunächst mal vollkommen frei entscheiden, wann ich losfahre, wohin ich fahre, welchen Weg ich dabei wähle und wie schnell ich unterwegs sein will. Einschränkungen dieser Freiheit finden auf zwei Arten statt: Einerseits durch Regeln und Verbote, andererseits durch sicherheitsgerichtete Notwendigkeiten. In die erste Kategorie fallen beispielsweise Ampeln (der Fachmann sagt Lichtsignalanlagen oder Lichtzeichenanlage), die konkurrierende Wünsche zur Benutzung eines Stücks Straße (z.B. der nachfolgenden Kreuzung) aufdröseln, Geschwindigkeitsbeschränkungen oder Einbahnstraßenregelungen. Ein Beispiel für die zweite Kategorie ist das Abstandshalteverfahren, das jeder Autofahrer mehr oder weniger gut automatisch ausführt und das verhindert, das sich die Leute massenhaft gegenseitig hinten reinfahren.

Long story short: Ich kann eigentlich erstmal machen, was ich will, solange mir das nicht durch den gesunden Menschenverstand untersagt wird oder es schlicht und einfach verboten ist.

Ganz anders bei der Eisenbahn.

Dort ist erstmal gar nichts erlaubt. Der sicherste Zustand ist der Stillstand, weswegen dieser auch der Grundzustand vieler organisatorischer und technischer Maßnahmen bei der Bahn ist.

Im Gegensatz zur Straße kann der Lokführer auch nicht einfach entscheiden, wann er mit seinem Zug losfahren will, wo er hinfahren möchte, welchen Weg er nimmt oder wie schnell er das Ganze angeht. Neben der Tatsache, dass er spurgebunden auf Schienen fährt und Weichen seinen Weg festlegen, wird ihm diese Entscheidungen noch auf zwei weiteren Ebenen abgenommen. Auf der organisatorischen Ebene ist der Laufweg aller Züge durch den Fahrplan exakt vorgegeben. Dieser Fahrplan ist dabei wesentlich mehr, als der Bahnreisende davon als großen gelben Aushang oder oder im Internet mitbekommt. Ein Fahrplan für einen Zug legt exakt fest:
  • wo eine Zugfahrt beginnt
  • welchen Weg der Zug nimmt (auf's Gleis genau)
  • wann der Zug wo zu sein hat
  • wie schnell einzelne Streckenabschnitt befahren werden dürfen
  • wo die Zugfahrt endet
Und genau danach muss sich ein Lokführer richten. Da nun allermeistens nichts so läuft wie man es geplant hat, verlässt man sich nicht auf solch ein organisatorisches Verfahren. Der Bahnbetrieb von heute ist - zumindest in Europa - weitgehend technisch gesteuert und ähnelt damit fast schon einer über das ganze Land reichenden, (teil-)automatisierten Fertigungsstraße.

Ganz grob gesprochen funktioniert das so: Das ganze Eisenbahnnetz ist in einzelne Abschnitte unterteilt, die zwischen einigen hundert Metern und einigen zig Kilometern lang sind (die Bahner sprechen von Zugfolgeabschnitten oder Blockabschnitten). Vor jedem dieser Abschnitte gibt es eine Einrichtung (z.B. ein Signal, sowas ähnliches wie die Ampeln bei der Straße), die einem Zug entweder verbietet oder erlaubt in diesen Abschnitt einzufahren. Im Grundzustand ist die Einfahrt üblicherweise erstmal verboten. Um die Einfahrt zu erlauben, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein:
  • Es darf sich kein anderer Zug im Abschnitt befinden
  • Es darf kein Zug aus der anderen Richtung kommen
  • Hinter einem vorausfahrenden Zug muss mindestens ein Signal "halt" zeigen
  • Alle Weichen im Abschnitt müssen in der richtigen Stellung liegen (das ist die, die dafür sorgt, dass der Zug dahin fährt, wo er laut Fahrplan hin soll)
  • Die Weichen müssen blockiert ("verschlossen") sein, so dass sie nicht umgestellt werden können, während der Zug drüber fährt
  • Es muss - so gut es geht - verhindert werden, dass andere Züge oder wegrollende Wagen dem Zug in die Seite fahren
Diese Bedingungen werden heute meistens durch technische Einrichtungen an der Infrastruktur sichergestellt und permanent überwacht. Übrigens auch die Einfahrt in den Abschnitt an sich: Selbst wenn er wollte, könnte der Lokführer nicht in einen nicht freigegebenen Abschnitt einfahren. Der Zug würde automatisch angehalten. Sobald der Zug drin ist, wird die Fahrterlaubnis sofort widerrufen, damit kein anderer Zug sie auf sich bezieht (kann man oft am Bahnhof sehen: Wenn ein Zug am grünen Signal vorbeifährt, wird dieses kurze Zeit später wieder rot).

An even longer story short: Bei der Eisenbahn steht erst einmal alles, es sei denn einem Zug wird ganz explizit erlaubt, ein kleines Stückchen weiterzufahren. Und rechtzeitig die Erlaubnis für das folgende Stückchen zu erteilen, das ist die große Kunst des Bahnbetriebs.


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1 Kommentar:

  1. Ich erkläre das kurz zusammengefasst immer so, dass die Eisenbahn ein fahrwegseitig gesteuertes System ist, ährend im Straßenverkehr der Kraftfahrer die entscheidende betriebsregelnde Instanz ist. Während die Straße nur eine passiv in der Landschaft herumliegende Infrastruktur ist, ist die Infrastruktur der Eisenbahn eine aktiv steuernde Instanz.

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